Liebe Alle
Indien – was soll ich dazu schreiben...
Seit ich mit Karin und Fritz unterwegs bin, ist Indien für mich viel einfacher zu er-fahren, ertragen...
Ich versuche immer wieder aufs Neue, Indien als meinen Lehrer zu betrachten - Ruhe zu bewahren und nicht zu verurteilen, was ich sehe - es gelingt mir nicht immer gleich gut...
Zwischenzeitlich sind wir im indischen Staat Assam angekommen. Hier wirkt vieles entspannter, sauberer, freundlicher und die Menschen scheinen etwas mehr Distanz zu haben, auch wenn wir hier weit und breit die einzigen „Westler“ sind und dann noch auf voll bepackten Fahrrädern durch die Gegend rollen. Fahrräder, die über 27 Gänge verfügen, an welchen elektronische Teile montiert sind und die selbst bei Tag mit Licht fahren, einen Dynamo haben – wir müssen auf die Menschen hier oft wie Ausserirdische wirken... Doch auch heute alles der Reihe nach...
Auf der Fahrt durch den Nordosten Indiens werde ich mit vielen Dingen konfrontiert, die ich nicht verstehen kann, nicht verstehen will, nicht einordnen kann. Ich erinnere mich immer und immer wieder an das Konzept des „Bezugsrahmens“ aus meiner Grundausbildung in Transaktionsanalyse TA. Als Bezugsrahmen wird in der TA die Sichtweise von sich, den anderen und der Welt definiert (Ultrakurzbeschrieb). Ich betrachte also die Welt aus meiner Sicht, durch meine Brille – oder eben im Rahmen der Möglichkeiten, welche mir mein Bezugsrahmen erlaubt, ich mir bewusst oder unbewusst gegeben habe, auf meinen Lebensweg mitbekommen habe... Auch wenn ich glaubte, meinen Bezugsrahmen auf meiner Reise deutlich erweitert zu haben, sprengt Indien diesen immer mal wieder...
Die Inder wiederum betrachten die Welt aus ihrer Sicht, durch ihre Brille – oder eben im Rahmen der Möglichkeiten, welche ihnen ihr Bezugsrahmen erlaubt. Und glaubt mir: Diese Sichtweisen sind in vielen Punkten in keiner Weise deckungsgleich - und dürften es wohl auch nie werden - zu verschieden sind die Welten...! So wie Passpartu an verschiedensten Orten übernachtet (aktuell in einer Baustelle, welche mal das Restaurant des Hotels hier werden soll - oder auch mal im Baumateriallager des Hotels im Treppenhaus) - übernachte auch in in Zimmern unterschiedlichster Qualität - manchmal fühlt es sich grenzwertig an, was die hygienischen Bedingungen betrifft - doch die Unterkünfte sind unterwegs meist nur sehr dünn gesät, so dass wir nehmen müssen, was wir kriegen - und das im Vergleich zu Nepal zu recht hohen Preisen...!
Beispiele des Unverständnisses...:
Ich kann nicht verstehen, warum weite Teile Indiens im Schmutz, Dreck und Abfall zu versinken drohen und die Leute diese Situation offenbar als „von Gott gegeben“, als eine Selbstverständlichkeit hinnehmen. Ich muss mir dann auch immer sagen: Sie kennen wohl nichts anderes - und wer ums tägliche (über)leben kämpft, kümmert sich halt wohl nicht um Sauberkaut auf der Strasse und im Fluss - und doch: Wie kann man sich oder seine Wäsche in einem solchen Fluss waschen? - Ganz einfach: Es ist nichts anderes da... - das ist wohl das Gesicht des Elends... In Assam sahen wir dann wieder ganz viele Häuser mit neu gebauten Toilettenhäuschen, während es sonst unterwegs nicht immer Toiletten gibt und die Menschen irgendwo...
Als ich in Varanasi auf dem Ganges Kerzen schwimmen liess und diese im dreckigen Fluss mit meinen Badeschlarpen vom Ufer weg in die Strömung lenken wollte, haben mich Inder sehr erzürnt und entsetzt angeschnauzt, was mir einfalle, mit SCHUHEN den heiligen Fluss Ganges bzw. „DIE MUTTER“ zu verunreinigen – ich habe dann ein Stück Styropor genommen, welches im heiligen Fluss bzw. in „der Mutter“ geschwommen ist und habe damit die Kerzen vom Ufer weg in die Strömung befördert – das war OK. Abfall jeder Art ist OK im Ganges, werfen die Inder auch mit einer Selbsterständlichkeit in den Fluss – NUR KEIN KONTAKT MIT SCHUHEN, die ich wieder mitnehme... - das kann ich nicht nachvollziehen...!
Ich hüte in Guwahati vor dem General Post Office unsere Velos, während Karin und Fritz versuchen, im Post Office Post abzuholen, die längst postlagernd für sie hier hätte eintreffen sollen (jedoch nicht da ist...!). Sofort werde ich umzingelt von vielen staunenden Indern – inkl. der drei Wachmänner, welche eigentlich das Eingangsportal bewachen sollten. Wiederholt werde ich gefragt, mit wie vielen Leuten ich denn unterwegs sei. Es stehen drei Fahrräder da. Jedes hat einen einzigen Sattel und keines einen Kindersitz. Also sind wir nach CH-Logik in einer 3er Gruppe unterwegs! Was soll die Frage – und warum stellt man sie mir wiederholt?? In der indischen Logik ist es aber längst nicht zwingend so, dass auf drei Fahrrädern nur drei Menschen unterwegs sind – sitzen doch oft zwei, drei oder noch mehr Inder auf einem Fahrrad...
Ich schaue vor dem General Post Office den Angestellten zu, wie sie Postsäcke aus einem Büro auf die Strasse tragen und auf einen Haufen werfen. Als alle Säcke aus dem Büro getragen sind und auf der Strasse liegen, schieben sie den grossen Handwagen, der direkt neben der Bürotüre steht, zum Haufen und laden die Säcke von Hand auf den Wagen. Hätten sie den Wagen zuerst geholt, hätten sie die Säcke direkt – und erst noch einfacher! - auf den Wagen laden und einen Arbeitsschritt sparen können. Aber diese Art von „westlichem logischen Denken“ ist hier nicht wirklich weit verbreitet, wie mir scheint...
Solche Situationen kann ich mal sehr gut, mal ganz schlecht ertragen - je nachdem halt auch, in welcher Dominanz/Vehemenz mir Inder dann begegnen. Immer mal wieder treten sie sehr selbstbewusst auf und mir fährt dann in solchen Situationen durch den Kopf "Was willst Du? He? Schau Dich doch mal um, wo Du lebst - hast keine Ahnung von der Welt - und dann ein solches Auftreten - sonst alles OK bei Dir?" - zum Glück merke ich das immer wieder so rechtzeitig, dass ich (hoffentlich) nicht zu arrogant auftrete...
Meine innere Aggression musste ich zum Beispiel in Guwahati im Hotel sehr zügeln, als wir gestern Abend nach einer Fahrt von 115 Km hier müde angekommen sind – die letzten Kilometer führten durch die Rushhour in dieser grossen Stadt und waren entsprechend von viel Verkehr geprägt. Wir haben am Vorabend online reserviert – bei unserer Ankunft ist man an der Reception in keiner Weise vorbereitet, muss zuerst herausfinden, ob bzw. welche Zimmer man uns zuteilen könnte, Schlüssel suchen... und uns fragen, wie manche Nacht wir bleiben wollen - obwohl wir für zwei Nächte reseviert haben... Das Prozedere der Zimmerzuteilung dauert gute fünf Minuten - ich merke, wie ich Mühe habe mich zurückzuhalten, als der Receptionist dann Druck macht, dass wir nun einchecken und die Formulare ausfüllen und unterzeichnen sollen.
Wie auch immer: Es ist eine spannende Erfahrung für mich, in Indien so unterwegs zu sein. Ein wichtiges Kapitel auf meiner Reise - wenn auch das wohl bisher schwierigste...
Seit einer Woche warten wir nun auf ein "Lebenszeichen" der Agentur aus Myanmar, welche uns das Permit für die Einreise auf dem Landweg ausstellen soll. Seit wir die Unterlagen per E-Mail eingereicht haben, herrscht Funkstille. Das belastet die Stimmung - können wir nun nach Myanmar einreisen oder nicht?
Doch gestern Abend haben wir hier in Guwahati ein tolles China- Restaurant gefunden - sehr westlich organisiert - feines Essen - lecker Nachspeise - teuer (wir bezahlten pro Person so viel wie sonst für alle drei zusammen...) - aber wunderbar schön als Insel im hektischen Indien. Da haben wir uns auch überlegt, wie wir unsere Reise fortsetzen mit der Ungewissheit betr. Permit:
Wir haben nun beschlossen, dass es schlussendlich schon klappen wird und fahren weiterhin der Grenze zu Myanmar entgegen. Sollten alle Stricke reissen, könnten wir notfalls nach Myanmar fliegen (dann braucht es kein Permit...) oder halt nach Bangkok fliegen. Die Flüge sind zwar teuer und die Reise würde in jedem Fall über 20 Stunden dauern - doch ein Ausweg ist ein Ausweg... Und wir würden die recht hohen Kosten für das Permit ja einsparen, was den Flug subventionieren würde... Drückt uns doch die Daumen, dass das Permit in den nächsten Tagen als PDF in unserer Mailbox liegt - DANKE!!
Tja, sonst habe ich nichts zu berichten. Es geht mir gut. Indien zieht aber auch viel Energie ab. Doch ich habe alles im Griff - alles im grünen Bereich - und doch merke ich, dass ich mich auf Myanmar und dann auf "Ferien von der Reise" in Thailand freue - wo ich dann auch den definitiven Entscheid betr. vierter Reise in der Reise treffen werde - es bleibt spannend...!
Herzlich in die Welt hinaus
Patrik Kitap
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