Liebe Alle
So ganz sicher war ich mir heute Morgen nicht, ob ich wirklich die richtige Route gewählt habe gestern Abend. Aber gewählt ist gewählt und schliesslich will ich ja noch über die Alpen - was sollen mir da also 1420 Höhenmeter auf 28 Km Distanz Angst einjagen?? Hallo?? Das sind im Schnitt ja nur um die 7% Steigung - durchgehend... Ich kann meine Unsicherheit nicht so richtig einordnen... Ich habe auf meiner Reise deutlich "heftigere Abschnitte" bewältigt - warum nun diese Unsicherheit...??
Amüsiert habe ich in einer Mail gelsen, dass sich ein Freund vor seiner ersten Passfahrt der Velosaison 2016 "fürchtet" - 600 Höhenmeter auf 40 Km. Das ist im Vergleich zu meiner heutigen Etappe ja FLACHLAND... Nun - alles ist relativ...
Nun, ganz so leicht habe ich die Herausforderung heute Morgen also nicht empfunden - und konnte nicht nachvollziehen, weshalb - was das Ganze dann zusätzlich verstärkt hat...
Vielicht, weil...: Mir fehlt seit Kirgistan schlicht die Übung für "richtige" Passfahrten, auch wenn ich in Indien auch Höhenmeter gemacht habe... Und an den letzten "Bergen" habe ich ja eher gelitten... Zudem habe ich gestern ja noch ein Paar aus Frankreich getroffen, welches mit dem Tandem unterwegs ist, um Spanien und Portugal zu umradeln. Die haben mir von der gewählten Srecke auch dringend abgeraten, es soll da nämlich auch noch einen "bösen" Tunnel geben - auf so einen bin ich doch schon in Kirgistan gestossen, der dann gar nicht wirklich böse war... Gestern hatte ich in Andorra le Vella auch noch ein Gespräch mit einem Reiseradler aus Finnland, der auch meinte, die von mir geplante Route sei doch sehr heftig... Tja, was soll mir passieren können: Ich gehe mal schauen - und wenn ich es nicht schaffen sollte, wechsle ich die Strassenseite und lasse mich zurückrollen - und wähle die flachere Strecke nach Perpignan (und ich weiss genau, dass ich das nicht tun würde, weil mein Kopf das nie zulassen würde - aber manchmal sind auch Optionen hilfreich, die man gar nicht wählen wird...). UND: Ich muss ganz einfach selber schauen gehen, wie die Strecke ist - und mich nicht auf das Fahrradfahrerlatein verlassen - damit habe ich seit meinem Start im April 2015 nur gute Erfahrungen gemacht!
Nach einem guten Frühstück war ich gestärkt genug, um die Welt zu erobern - oder wenigstens meinen Pass...
Aus Andorra le Vella fand ich den Weg problemlos. Immer der Steigung nach... Noch Wasser gekauft und dann ab die Post - also die Schneckenpost...
Langsam aber stetig kurbelte ich mich bergwärts - ich rechnete mit 5 bis 6 Stunden Reisezeit bis zur Passhöhe - also inkl. Pausen. Das Wetter spielte mit. Sonnig, warm - Westwind - bedeutete für mich: Rückenwind. Wie der Wetterbericht es prognostiziert hatte. Unterwegs auf einer Sonnenterrasse noch schnell ein Café genossen und weiter gekurbelt...
Gegen Mittag treffe ich auf Laszlo - einen Reiseradler aus Ungarn. Er ist in meiner Gegenrichtung unterwegs und im Vergleich zu mir sehr einfach ausgerüstet und offenbar auch am Ende seines Budgets - so lade ich ihn zu einem Sandwich ein. Dazu muss er aber gute 3 Km wieder bergwärts radeln - weil es vorher kein Restaurant oder Laden gibt, wo wir etwas kaufen könnten. Das ist der Preis, den er für die Einladung zu bezahlen hat...
Die Orte entlang der Strasse sind offenbar praktisch alle auf Wintertourismus ausgerichtet. Die allermeisten Hotels und Restaurants sind geschlossen. Die Weihnachtsbeleuchtung fix installiert... Viele Wohnungen, Häusser, Ladenlokale und ganze Hotels (!) stehen zum Verkauf. Es läuft hier offenbar wirtschaftlich nicht nur gut.
Laszlo ist ein spannender Mensch. Und im Gespräch mit ihm zeigt sich einmal mehr, wie privilegiert wir in der Schweiz sind!
Laszlo berichtet mir von der Strecke bergwärts - und bestätigt mir, was ich schon ahnte: Die steilsten Abschnitte stehen mir wohl wirklich noch bevor... Aber ich habe ja Zeit...
Nach dem Sandwich kurble ich mich einfach weiter bergwärts - immer kurbeln, kurbeln, kurbeln.... Am Strassenrand steht alle Kilometer ein Schild, welches über die verbleibende Distanz bzw. die verbleibenden Höhenmeter bis zur Passhöhe informiert - und auch über die Steigung auf dem kommenden Kilometer. Diese Schilder sind mal motivierend, mal weniger...
Der "böse Tunnel" kommt und hat für mich keinerlei Bedeutung, weil ich die Passstrasse fahren werde. Es geht für mich also keine Gefahr von einem "bösen Tunnel" aus. Ich sage ja: Selber schauen gehen, wie die Strecke ist!
Das Wetter wird zunehmend schlechter. Die Wetterprognose hält, was sie versprochen hat. Der Westwind bringt eine Regenfront. Hm - der Westwind war aber auch mein Rückenwind während des ganzen Tages. So hat eben jedes Ding min. zwei Seiten. Mal schauen, ob ich vor dem Regen auf der Passhöhe bin... Ein kleines Wettrennen...
Plötzlich stehe ich oben - also noch ein letztes Schild, das sagt, dass auf dem letzten Kilometer noch 66 Höhenmeter zu machen sind - und dann bin ich tatsächlich oben. Oben ist man, wenn es nicht mehr bergauf geht - sondern nur noch bergab... Kann auf verschiedene Situationen im Leben zutreffen, nicht nur auf Passfahrten mit dem Velo...
Ich brauchte tatsächlich alles in allem auf die Minute genau 5 Stunden und bin sehr zufrieden mit mir!! Gibt mir Mut für die Route des Grandes Alpes - wobei ich bis dahin wohl wieder einiges an Bergkondition verloren haben dürfte...
Das obligate Passfoto kann ich noch knipsen, bevor der Regen einsetzt, der mich zwischenzeitlich eingeholt hat. Zwischen die Regentropfen mischen sich auch Schneeflocken/Eiskristalle. Es ist entsprechend kühl und nass. Eine Kombination, die ich so gar nicht mag...
Erstmals seit gefühlten Ewigkeiten ziehe ich die Regenhosen wieder einmal an und stürze mich in die Abfahrt. Es geht mit 8% Gefälle gut talwärts - die Eiskristalle schmerzen im Gesicht - ich erreiche Pas de la Casa. Ein für mich optisch furchtbarer Ort. Ein grosses Skitourismuszentrum offenbar - mit spannender Vergangenheit. Hotels und TaxFreeShops OHNE ENDE... Viele Autos mit Autonummern aus Frankreich - Einkaufstouristen?! Es gibt hier auch spezielle Sonderangebote: Drei Stangen Zigaretten mit Klebeband elegant umwickelt - dazu eine kleine Flasche (0,5 LIter) Schnaps gratis. Ein Laster kommt bekanntlich selten alleine... SEHR Sympa finde ich, dass hier HARIBO-Gummibärchen etc. in der KILO-Tüte verkauft werden, um die 3 Euro - ich konnte bisher widerstehen...
Der Ort wirkt auf mich wie ein Industriegebiet, welches hier in den Hang gestellt wurde. Lieblos, zweckmässig - ... Was soll's - von hier aus geht es bis Perpignan eigentlich nur noch talwärts - gute 120 km - mit einer "kleinen Steigung". Diese Strecke kann ich auch am Donnerstag noch bei Regen fahren, sollte es denn am Donnerstag auch noch regnen. Ich beschliesse, hier abzusteigen. Die Hotelsuche gestaltet sich sehr mühsam! Verschiedene Hotel lehnen Passpartu ab, weil sie keinen Platz für Fahrräder haben wollen... In einem anderen Hotel sagt mir der nett lächelnde Herr an der Rezeption, der mich mit "Bonjour jeune homme" begrüsst, das Zimmer würde 60 Euro kosten, dafür sei ein Frühstück inbegriffen und für Passpartu könnte man vielleicht auch noch einen Platz im Haus finden, das müsse er aber zuerst prüfen. Hallo? 60 Euro für eine Übernachtung - so grossartig kann kein Früsthstück der Welt sein! Eher genervt schiebe ich Passpartu durch den starken und kalten Regen, treffe auf zwei Verkehrspolizisten, die sich in einem Hauseingang vor dem Regen in Sicherheit gebracht haben. Die sagen mir, wo ich fragen gehen soll. Ein gutes, günstiges Hotel mit Garage. Und da steige ich ab und bezahle einen absolut annehmbaren, fairen Preis - inkl. Frühstück. Passpartu findet seinen sicheren Platz in der Garage. Geht doch!!
Andorra hat landschaftlich durchaus sehr schöne Seiten zu bieten. Einfach die Ortschaften entsprechen so gar nicht meinem Geschmack - sie sind ähnlich der Touristenorte, welche in Frankreich aus dem Boden gestampft wurden...
Eine warme Dusche, etwas dösen, die Strecke nach Perpignan nochmals ausloten - vielleicht schaffe ich die ganzen 120 km am Donnerstag?!, diesen Kurzblog schreiben, während einer Regenpause den erfolglosen Versuch wagen, irgendwo gepflegt ein Café trinken zu können, nun warten bis es Zeit für das Nachtessen wird... - und dann noch den Wetterbericht konsultieren - und dann gut und tief schlafen...
Zufrieden mit meiner Tagesleistung in die Welt hinaus
Patrik Kirtap
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Susanne (Samstag, 21 Mai 2016 22:20)
Ueli und ich sind vor 42 Jahren via Andorra nach Hause gefahren und es war damals schon schrecklich mit dem Kommerz. Ich wollte wegen Max Frisch - Andorra war eines meiner Lieblingsbücher - unbedingt über die Berge fahren. Na ja, das Buch gehört noch immer zu meinen Lieblingen und den Ort habe ich damals
abgehakt... LG.