Liebe Alle
Heute habe ich den Tag der "Tiefpunkte" erlebt...
Abgefahren bin ich nach einem französischem Frühstück (1 Croissant, 1 Stück geröstetes Brot, 1 Café au lait) kurz vor 10 Uhr - die Sonne strahlte vom blauen Himmel, aber es war noch immer kühl. Es rollte gut talwärts - bis ein metallenes Scheppern mich aufhorchen liess und Passpartu sich unter mir "schüttelte"...
Tja - ich habe es geschafft:
Den einzigen rostigen Nagel, der auf der tollen Strass hier lag, habe ich voll getroffen - und Passpartus Hinterreifen ist sofort platt. BINGO! Noch keine 10 Kilometer unterwegs... Ob ich je nach Perpignan komme...??
Mein erster Platten seit tausenden von Kilometern - selbst in Indien auf diesen so schlechten oder kaum vorhandenen Strassen hatte ich nie einen Platten...! Und nun hier...
Der letzte Platten war in Kirgistan - am Tag bevor ich mit Emil Bishkek erreichte... Damals habe ich ja auch "selber" geflickt - aber Emil war da, der Profimechaniker - er hat amüsiert zugeschaut, den einen oder anderen mehr oder weniger hilfreichen Spruch abgesetzt (ehrlich gesagt: deutich mehr weniger als mehr mehr hilfreich - doch der Schwabe und der Schweizer haben sich sehr gut verstanden - auch ihre humoristischen Seiten...) - aber vor allem hat Emil Kaffee für mich gekocht - obwohl er selber gar kein Kaffee tirnkt... Das war eine wahre Freundchaftsdienstleistung!! Erinnerungen werden wach - selbst bei einem Platten... Schöne Erinnerungen, sehr schöne Erinnerungen an wunderbare Landschaften auf dem Pamir - und tolle Radlerfreunde unterwegs - oder den genialen Velomech im Iran, der mir meinen ersten Platten flickte - oder...
Aber nun bin ich hier in Frankreich unterwegs - alleine. Es gibt keine andere Lösung: Alles abladen, Schlauch flicken oder noch besser grad wechseln, da ich noch mehr als genug Ersatzschläuche dabei habe... Trotzdem: GRRR!!!
Tja, wenn der Reifen so schnell so PLATTPLATT ist, habe ich Passpartu ein LOCH einge-fangen - und keinen Schleicher, den ich mit Pumpen für einige Kilometer überlisten könnte...
Obwohl ich mich ärgere, so kurz vor Perpignan einen Platten zu haben, so schnell ist klar: Ärgern bringt mich nicht weiter - ich muss handeln...
Also spiele ich Mann und repariere den Platten auf einem Grünstreifen neben der gut befahrenen Hauptstrasse vor einem Kreisel. Die Autofahrer reagieren unterschiedlich auf mich bzw. das Schauspiel - nicht wenige scheinen sich zu amüsieren - Schadenfreude...?!?
Ich bemühe mich, möglichst kompetent zu wirken, lege mein Werkzeug aus wie ich mir vorstelle, dass Ärzte ihr Besteck im Operationssaal auslegen - und strahle einfach zurück... :-)!!
Nur ca. 40 Minuten später rolle ich weiter. Gut gemacht! Bei der nächsten Tankstelle mit dem Kompressor (heisst hier Gonfleur) noch schnell genug Luft in den Hinterreifen pumpen - mit meiner kleinen Handpumpe ist es schwierig, genug Luft in den Reifen zu kriegen. Und zur Belohnung im nächsten Bistrot ein Café! Da keiner da ist, der mich loben könnte für meine handwerkliche Meisterleistung, muss ich das halt selber übernehmen...
Ernsthaft: Einen Platten flicken ist ja nun wirklich kein Hexenwerk. Nur: Vor meiner Veloweltreise hätte ich das niemals selber gemacht, hätte meinen beiden linken Händen das niemals zugetraut... Ich habe mir ja auch nicht so wirklich zugetraut, alle Visas unterwegs zu bekommen und so weiter und so fort - und nun bin ich glücklich und zufrieden auf dem Heimweg - alles geschafft, alles richtig gemacht, SEHR viel gelernt - DAS IST EIN GENIAL GUTES GEFÜHL...!! JA: Ich habe sehr, sehr viel gelernt auf der Reise, auf meiner Route de soi - und selbst schwarze Hände ängstigen mich nicht mehr - genauso wenig, wie Absteigen zum Übernachten, schmudlige Restaurants oder selber kochen auf der Autobahn in Portugal - man stumpft ab, hat es Emil in Krigistan auf den Punkt gebracht...
Gestern noch wollte ich Ersatzschläuche und -teile heimschicken. Nun brauche ich sie bereits... Hm - ich überlege mir gut, was ich der Post übergeben werde...
Einen weiteren "Tiefpunkt" erreiche ich einige Kilometer nach meiner Kaffeepause: Den wohl tiefsten Pass meiner Reise. Mit gerade 233 Meter über Meer nennt sich diese Erhebung Pass. Den Franzosen dichte ich ja schon lange einen übertriebenen Hang zu Superlativen an. Nun scheinen sie es mir aber wirklich zu beweisen. Tja - für mich bedeutet das aber auch, dass es nun fertig lustig ist mit abwärts fahren ist. Denn bis Perpignan sind es noch um die 30 Kilometer und ich habe bis auf Meereshöhe nur noch 233 Höhenmeter abwärts - bedeutet: Recht bald wird es flach und der Gegenwind wird mich in der Fläche schön ausbremsen...
So ist es denn auch. Ich muss in der Fläche arg strampeln. Die Route National, der ich seit Andorra gefolgt bin, wird vor Perpignan eine Autostrasse - ich suche mir den Weg über die Nebenstrassen und komme prima in Perpignan an. Sandy hat etwas Mühe, mich durch die Stadt zu lotsen - vielleicht war sie noch nie in Perpignan und kennt den Weg daher nicht so gut? Sie hatte bereits in Andorra le Vella massive Orientierungsprobleme...
In dieser chicen Strasse nahe dem Hauptbahnhof wohnen Passpartu und ich gut und günstig für eine Nacht. Das Zimmer ist optisch absolut OK - akustisch etwas weniger: Ich verstehe jedes Wort, welches im Nachbarzimmer gesprochen wird - hoffentlich schnarcht da niemand, sonst schnarche ich zurück...
Morgen geht es Weiter, der Küste entlang Richtung Norden. Die Strecke ist die nächsten ca. 300 km einigermassen flach und ich hoffe, dass der Wind höchstens von der Seite kommt - oder noch lieber hätte ich natürlich KRÄFTIGEN Rückenwind...
Übrigens: Ein Stange Bier und ein Fläschen Wasser kosten hier 7.90 Euro. Mit stockt der Atem... Ein Budget-Tiefpunkt der anderen Sorte... Das nächste Bier hole ich mir wieder im Supermarkt und trinke es auf dem Gesteig - einfach auf der Bordsteinkante statt am Tischchen des Restaurants...!
Wie ich mein Bier und mein Wässerchen im Bistrot auf der Terrasse/dem Gehsteig trinke, werde ich von einem jungen, auf mich komisch wirkenden, Paar angesprochen. Sie möchten mein Handy benutzen, um den Vater anzurufen, damit dieser sie am Bahnhof abholen komme. Die beiden wirken auf mich überhaupt nicht OK und ich spreche mit ihnen mal Schweizerdeutsch, stelle mich doof, hilft immer wieder in solchen Situationen - so lassen sie bald von mir ab und quatschen die anderen Gäste im Restaurant an. Keiner der Einheimischen gibt ihnen das Handy... Die junge Frau setzt sich schlussendlich am Nachbartisch zu den beiden Damen, die ihr Handy eben auch nicht zur Verfügung stellen wollen und bedrängt diese sehr. Als der Kellner sich nähert, steht sie auf und geht diskret weiter, ohne dass der Kellner interveniert hätte. Komische Szene...
Ich freue mich, in Perpignan angekommen zu sein. Von nun geht es immer in Richtung Norden - auf dem kürzesten Weg, damit ich rechtzeitig in die Route des Grandes Alpes starten und unterwegs doch noch den einen oder anderen Ruhe- bzw. Ferientag einschalten kann - irgendwo am Meer, am sonnigen Strand spazieren, baden, sein - davon träume ich grad...
Ich freue mich, der Küste entlang nach Norden zu fahren. Ob ich nach Marseille gehe oder nicht, entscheide ich kurzfristig. Irgendwie würde mich diese Stadt interessieren - irgendwie aber auch nicht - es wird auch eine Frage der Zeit werden - und gewisse Reisepläne brauche ich ja auch nach dem 25. Juni 2016 noch... Tja - immer diese Entscheidungen...
So oder so schaffe ich es nun rechtzeitig nach Nizza/Menton - ab hier gibt es ja auch wieder einen richtigen Zug, falls es zeitlich unerwartet eng werden sollte - aber auf direktem Weg habe ich in den nächsten elf Tagen "nur" 600 km zu bewältigen - das ist eigentlich ein Wochensoll, wenn alles gut läuft... Zufrieden bin ich auch sehr, dass ich den Weg durch Andorra gewählt habe und nicht vor dem Pass hinter Andorra le Vella kapituliert habe. Mir fallen spontan folgende Zitate ein:
Es gibt mehr Menschen, die kapitulieren - also solche, die scheitern (Henri Ford)
Wollen ist Macht - Diego
Ob ihr es glaubt oder nicht: Solche Zitate geben mir Kraft und Mut - komisch - ist aber nun mal so!
Im Tal nach Perpignan habe ich übrigens den Train Jaune immer wieder gesehen - also die Bahnstrecke, die Werbung für diesen Zug und seine Bahnhöfe... Die Fahrt mit der "Pyrenäenmetro" ist sicher eine lohnenswerte Reise!!! Wer weiss, wenn ich dann mal nach meiner Rückkehr nach Spanien reise...
Herzlich in die Welt hinaus
Patrik Kirtap und der geflickte Passpartu
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Susanne (Samstag, 21 Mai 2016 22:43)
Kommentar meiner besseren Hälfte zum gefangenen Nagel: In Kirgistan und anderen Ländern mit wenig Besitz werden die Nägel lieber aufgelesen statt liegen gelassen, man könnte sie ja noch für etwas brauchen. Wir Europäer sind halt nachlässig und verwöhnt...